KSÜ – IntFamRVG – Kafala – Visum
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
wenn Sie beabsichtigen, ein marokkanisches Pflegekind, nach Kafala, in Deutschland zu betreuen, sollten Sie nichts unternehmen, ohne zuvor Beratungsgespräche mit Ihrem zuständigen Landesjugendamt in Deutschland und mit der Zentralen Behörde in Rabat geführt zu haben. Das Studium dieser Seite kann solche Beratungsgespräche nicht ersetzen.
Diese Seite bietet keine Rechtsberatung. Die Inhalte sind weder von Juristen erstellt noch geprüft. Die hier angebotenen Informationen sollten auch nicht missverstanden werden, als pauschaler Aufruf, Pflegekinder aus Marokko aufzunehmen. Die Entscheidung dafür bedarf einer sehr gründlichen Überlegung. Verfahrenslaufzeiten von einem Jahr und deutlich darüber hinaus, sind die Regel.
KSÜ – Haager Kinderschutzübereinkommen
Soll ein Kind in einem anderen Land nach Kafala betreut werden, so kommt internationales Recht nach dem Haager Kinderschutzübereinkommen (KSÜ) zur Anwendung. Der komplette Namen des Gesetzes trägt den Namen:
„Gesetz zu dem Haager Übereinkommen vom 19. Oktober 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern“
Das KSÜ hat 43 Vertragsstaaten und ist in Deutschland und in Marokko seit dem 01. Januar 2011 in Kraft. Das Übereinkommen kann hier nachgelesen werden.
Die notwendigen Verfahrensschritte für eine Unterbringung eines Pflegekindes im Ausland sind im Artikel 33 des Übereinkommens geregelt. Der Artikel umfasst zwei Abschnitte, in denen die vier notwendigen Verfahrensschritte genannt werden.
Der Gesetzestext des Artikel 33 KSÜ im Wortlaut
Artikel 33 (1): Erwägt die nach den Artikeln 5 bis 10 zuständige Behörde die Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim oder seine Betreuung durch Kafala oder eine entsprechende Einrichtung und soll es in einem anderen Vertragsstaat untergebracht oder betreut werden, so zieht sie vorher die Zentrale Behörde oder eine andere zuständige Behörde dieses Staates zu Rate. Zu diesem Zweck übermittelt sie ihr einen Bericht über das Kind und die Gründe ihres Vorschlags zur Unterbringung oder Betreuung.
Artikel 33 (2): Die Entscheidung über die Unterbringung oder Betreuung kann im ersuchenden Staat nur getroffen werden, wenn die Zentrale Behörde oder eine andere zuständige Behörde des ersuchten Staates dieser Unterbringung oder Betreuung zugestimmt hat, wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist.
Erläuterung des Artikel 33 KSÜ
Ein genauer Blick auf die beiden Absätze des Gesetzes ist dringend anzuraten, da die Einhaltung der Reihenfolge der beschriebenen Verfahrensschritte, sehr wichtig für eine reibungslose Verfahrensdurchführung und die spätere Visumserteilung ist. Dieser Punkt kann nicht deutlich genug hervorgehoben werden.
Artikel 33 (1) KSÜ definiert zwei Sachverhalte, die gleichzeitig vorliegen müssen, damit das KSÜ-Verfahren initiiert werden kann.
1. Das Kind soll z.B. durch Kafala betreut werden.
2. Das Kind soll in einem anderen Vertragsstaat untergebracht werden.
Außerdem wird die „Erwägung“ und das „Zu Rate ziehen“, in der zeitlichen Abfolge, der Übertragung einer Kafala und der Unterbringungsentscheidung vorangestellt.
Die vier Verfahrensschritte:
Schritt 1. Die Erwägung des marokkanischen Familiengerichts ein Kind in Deutschland unterbringen zu wollen.
Schritt 2. Das zu Rate ziehen des Landesjugendamts, indem dazu, von Marokko nach Deutschland, ein Bericht über das Kind übermittelt wird, aus dem heraus die Gründe für die Betreuung in Deutschland ersichtlich werden.
Schritt 3. Die Erteilung der Zustimmung zur Unterbringung in Deutschland durch das Landesjugendamt, die das Wohl des Kindes berücksichtigt.
Schritt 4. Marokko trifft die Entscheidung zur Betreuung in Deutschland, nachdem das Jugendamt der Betreuung in Deutschland zugestimmt hat.
Die Entscheidung zur Betreuung nach Schritt 4. wird letztendlich durch die Erteilung der Kafala und der (Aus-)Reiseerlaubnis, durch das marokkanische Familiengericht, vollzogen.
Wird die Kafala vorher oder während der Verfahrensdurchführung erteilt, liegt im Sinne des Wortlauts des Artikel 33 ein Verfahrensfehler vor. Die Bewertung solcher Verfahrensfehler liegt dann im Ermessen der Behörden.
Neben dem Artikel 33 sind die Artikel 23, 24 und 54 des KSÜ unmittelbar von Bedeutung.
Artikel 23 befasst sich mit der (Nicht-) Anerkennung von Entscheidungen anderer Vertragsstaaten.
Artikel 24 verweist auf die Möglichkeit, eine im Ausland getroffene Entscheidung, juristisch anerkennen zu lassen. Die Rechtsgültigkeit der marokkanischen Sorgerechtsübertragung für ein Kind kann hiernach auch für Deutschland anerkannt werden.
Artikel 54 regelt Übersetzungserfordernisse in der zwischenstaatlichen Korrespondenz.
Internationales Familienrechtsverfahrensgesetz (IntFamRVG)
Der komplette Namen des Gesetzes lautet: „Gesetz zur Aus- und Durchführung bestimmter Rechtsinstrumente auf dem Gebiet des internationalen Familienrechts“. Den Gesetzestext finden sie hier.
Im Artikel 15 (1) KSÜ wird darauf verwiesen, dass die Vertragsstaaten ihr eigenes Recht anwenden. Für Deutschland werden die Bestimmungen des KSÜ, auf nationales Recht, in den §§ 45 – 47 des IntFamRVG, heruntergebrochen. Im offiziellen Schriftverkehr deutscher Behörden wird daher häufig die Formulierung verwendet: „… nach Artikel 33 KSÜ in Verbindung mit den §§ 45 – 47 IntFamRVG …“
Die Bedeutung der Durchführung eines Konsultationsverfahrens, vor einer Unterbringung ausländischer Kinder, wird in einem Papier der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter, aus dem Mai 2016, anschaulich motiviert. Es trägt den Titel „Arbeitshilfe der Landesjugendämter zur Durchführung der Konsultationsverfahren nach Art. 56 Brüssel IIa-VO, Art. 33 KSÜ, §§ 45 ff. IntFamRVG“. Abschnitt 2.4.5.4 beschäftigt sich mit dem Kafala-Verfahren (S. 26 – 28).
Die Paragraphen 45 – 47 im Wortlaut
§ 45 Zuständigkeit für die Zustimmung zu einer Unterbringung
Zuständig für die Erteilung der Zustimmung zu einer Unterbringung eines Kindes […] nach Artikel 33 des Haager Kinderschutzübereinkommens im Inland ist der überörtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe, in dessen Bereich das Kind nach dem Vorschlag der ersuchenden Stelle untergebracht werden soll, andernfalls der überörtliche Träger, zu dessen Bereich die Zentrale Behörde den engsten Bezug festgestellt hat. Hilfsweise ist das Land Berlin zuständig.
§ 46 Konsultationsverfahren
(1) Dem Ersuchen soll in der Regel zugestimmt werden, wenn
1. die Durchführung der beabsichtigten Unterbringung im Inland dem Wohl des Kindes entspricht, insbesondere weil es eine besondere Bindung zum Inland hat,
2. die ausländische Stelle einen Bericht und, soweit erforderlich, ärztliche Zeugnisse oder Gutachten vorgelegt hat, aus denen sich die Gründe der beabsichtigten Unterbringung ergeben,
3. das Kind im ausländischen Verfahren angehört wurde, sofern eine Anhörung nicht auf Grund des Alters oder des Reifegrades des Kindes unangebracht erschien,
4. die Zustimmung der geeigneten Einrichtung oder Pflegefamilie vorliegt und der Vermittlung des Kindes dorthin keine Gründe entgegenstehen,
5. eine erforderliche ausländerrechtliche Genehmigung erteilt oder zugesagt wurde,
6. die Übernahme der Kosten geregelt ist.
(2) Im Falle einer Unterbringung, die mit Freiheitsentziehung verbunden ist […]
(3) Die ausländische Stelle kann um ergänzende Informationen ersucht werden.
(4) Wird um die Unterbringung eines ausländischen Kindes ersucht, ist die Stellungnahme der Ausländerbehörde einzuholen.
(5) Die zu begründende Entscheidung ist auch der Zentralen Behörde und der Einrichtung oder der Pflegefamilie, in der das Kind untergebracht werden soll, mitzuteilen. Sie ist unanfechtbar.
§ 47 Genehmigung des Familiengerichts
(1) Die Zustimmung des überörtlichen Trägers der öffentlichen Jugendhilfe nach den §§ 45 und 46 ist nur mit Genehmigung des Familiengerichts zulässig. Das Gericht soll die Genehmigung in der Regel erteilen, wenn
1. die in § 46 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen und
2. kein Hindernis für die Anerkennung der beabsichtigten Unterbringung erkennbar ist.
§ 46 Abs. 2 und 3 gilt entsprechend.
(2) Örtlich zuständig ist das Familiengericht am Sitz des Oberlandesgerichts, in dessen Zuständigkeitsbereich das Kind untergebracht werden soll, für den Bezirk dieses Oberlandesgerichts.
§ 12 Abs. 2 und 3 gilt entsprechend.
(3) Der zu begründende Beschluss ist unanfechtbar.
Erläuterung der Paragraphen 45 – 47
Im Kapitel V KSÜ, über die zwischenstaatliche Zusammenarbeit, wird beschrieben, dass die Vertragsstaaten eine sogenannte Zentrale Behörde einrichten, die die Aufgaben des KSÜ-Übereinkommens wahrnimmt. Diese Aufgaben kann eine Zentrale Behörde unmittelbar oder mit Hilfe anderer staatlicher Behörden erfüllen.
Für Deutschland regelt der § 45 IntFamRVG, dass die Zuständigkeit, für die Durchführung des KSÜ-Verfahrens, bei den Landesjugendämtern liegt.
Die Zentrale Behörde in Bonn, für Deutschland, ist im Wesentlichen nicht am Verfahren beteiligt. Sie fungieren im Prozess beratend und leitet den Schriftverkehr weiter, der zwischen den Staaten fließt.
In Marokko übernimmt die Zentrale Behörde in Rabat unmittelbar die Aufgaben aus dem KSÜ. In der Regel stehen daher, während der Verfahrensdurchführung, das zuständige Landesjugendamt und die Zentrale Behörde in Rabat miteinander in schriftlichem Kontakt.
§ 46 beschreibt das sogenannte „Konsultationsverfahren“. Das Konsultationsverfahren ist die Ausformulierung des Artikel 33 (2) KSÜ und für deutsche Behörden der zentrale Baustein im KSÜ-Verfahren.
§ 47 definiert die Verantwortlichkeit des Familiengerichts. Beabsichtigt das Landesjugendamt, nachdem das Konsultationsverfahren erfolgreich durchgeführt ist, die Zustimmung für die Betreuung eines Kindes in Deutschland auszusprechen und diese Entscheidung den marokkanischen Behörden mitzuteilen, muss dazu vorher die Zustimmung des deutschen Familiengerichts eingeholt werden.
Kafala-Gesetz
Rechtliche Grundlage für die Durchführung einer Kafala ist das Gesetz 15.01 „Die Kafala“. Übersetzungen des Gesetzes in französischer Sprache lassen sich im Internet finden. Darüber hinaus ist uns kein marokkanisches Gesetz bekannt, das vergleichbar zum IntFamRVG für Deutschland, die Umsetzung des KSÜ nach marokkanischem Recht regelt.
Visum
Vor der Einreise eines Pflegekindes nach Deutschland muss beim Konsulat der Deutschen Botschaft in Rabat ein Visum beantragt werden. Die Botschaft prüft, ob die Voraussetzungen für die Erteilung eines Visums gegeben sind. Die gesetzliche Grundlage bildet dafür das deutsche Aufenthaltsgesetz (AufenthG).
Das AufenthG definiert eine Reihe von Aufenthaltszwecken, für die ein Visum erteilt werden kann, z.B. zum Zwecke einer Familienzusammenführung, aus humanitären Gründen oder zum Zwecke der Arbeitsaufnahme in Deutschland. Neben den im Gesetz konkret benannten Aufenthaltszwecken erlaubt der Gesetzgeber, im § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG, die Erteilung eines Visums für Ausnahmefälle: „In begründeten Fällen kann eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen von diesem Gesetz nicht vorgesehenen Aufenthaltszweck erteilt werden.“
Die Betreuung eines Kindes nach Kafala stellt keinen ausdrücklichen Aufenthaltszweck nach dem AufenthG dar. Die Erteilung eines Visums kann aber, mit Bezug auf die erwähnte Ausnahmeregelung in § 7 Abs. 1 Satz 3, erfolgen, sofern das KSÜ-Verfahren, nach Artikel 33, in der korrekten zeitlichen Abfolge durchgeführt wurde.
Die Botschaft ist in Ihrer Visa-Entscheidung nicht an die Entscheidungen anderer deutscher Behörden gebunden. Sie untersteht nur Ihrem Dienstherren, dem Auswärtigen Amt (AA), das die Erteilung eines Visums anordnen kann. Der Botschaft steht es demnach frei, den KSÜ-Verfahrensablauf kritisch zu hinterfragen und potentiell zu einer anderen Einschätzung zu gelangen, als zuvor das Landesjugendamt und das deutsche Familiengericht in ihren unanfechtbaren Entscheidungen.
Gegen die Nichterteilung eines D-Visums kann der Antragsteller remonstrieren oder beim Verwaltungsgericht in Berling Klage einreichen. Nach dem „Visumhandbuch“ des AA ist eine Remonstration „… die gegen die Ablehnung eines Visums von dem Antragsteller bzw. dessen Bevollmächtigten erhobene Gegenvorstellung. Die Möglichkeit der Remonstration besteht unabhängig von einer Klageerhebung, d.h. Antragsteller können gegen den Erstbescheid Remonstration und/oder gleichzeitig auch Klage erheben …“.
Für Remonstration und Klage sind Fristen zu beachten. Die Fristen gelten sowohl für die Remonstration als auch für das Klageverfahren:
– Bei Ablehnungsbescheiden, ohne Rechtsbehelfsbelehrung beträgt die Frist ein Jahr nach Bekanntgabe des Bescheids.
– Bei Ablehnungsbescheiden, mit Rechtsbehelfsbelehrung beträgt die Frist einen Monat nach Bekanntgabe des Bescheids.
Am Ende des Remonstrationsverfahrens erhält der Antragsteller einen Remonstrationsbescheid. Der Remonstrationsbescheid ersetzt den ursprünglichen Ablehnungsbescheid. Gegen den Remonstrationsbescheid kann wieder innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe Klage beim Verwaltungsgericht Berlin erhoben werden.
Ein Klageverfahren wird vom AA, im Referat 509, geführt, das zuständig ist für „Visumrecht: Einzelfälle und Verwaltungsstreitverfahren in Visumangelegenheiten“. Laut „Visumhandbuch“ ist die Botschaft im Klageverfahren verpflichtet „… die Visumversagung nochmals unter allen, insbesondere den in der Klageschrift thematisierten Gesichtspunkten zu prüfen. Kommt die Vertretung nach dieser Prüfung zu dem Ergebnis, dass das streitgegenständliche Visum doch erteilt werden kann, ist unter Darlegung der tragenden Erwägungen umgehend an Ref. 509 zu berichten. …“ Beide Parteien, Antragsteller und AA, sind dazu angehalten, eine aussergerichtliche Einigung zu suchen. Dies kann im Rahmen eines Remonstrationsverfahrens oder informell geschehen.
Im Kontext der Betreuung nach Kafala, im Rahmen des KSÜ, existiert bis dato kein Urteil aus einem Klageverfahren.
Remonstration und Klageverfahren lassen sich vermeiden durch Kenntnis des KSÜ-Verfahrens. In der Hoffnung, hierbei anderen behilflich zu sein, ist diese Seite entstanden.